Lernen aus dem Irak: Zehn Erkenntnisse aus unserer Praxis für Syrien
Die Lehren aus dem Irak zeigen: Gerechtigkeit und Frieden müssen Hand in Hand gehen. Alle Überlebenden sollen ihr Recht auf Reparationen realisieren können ohne ausgeschlossen oder stigmatisiert zu werden. Politische Machtteilung und inklusive Lösungen für Land, Eigentum und Minderheiten sind entscheidend. Eine wirksame Rechenschaftspflicht und eine zivile Kontrolle des Sicherheitssektors können Stabilität sichern und neue Gewalt verhindern.
1. Vermeidung von allgemeinen und weitreichenden Ausschluss- oder Überprüfungsprogrammen, die einen bedeutenden Teil der Bevölkerung entfremden könnten.
2. Fokussierung auf nachhaltige und koordinierte Rehabilitationmaßnahmen, die psychosoziale und medizinische Unterstützung für Überlebende von Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen beinhaltet.
3. Vermeidung eines Zielkonflikts zwischen Frieden und Gerechtigkeit indem starke Institutionen geschaffen werden, die alle Konfliktparteien zur Rechenschaft ziehen.
4. Unterstützung von Übergangsjustizprozessen (inkl. strafrechtlicher Verfahren) sollte daran geknüpft werden, dass die empfangenden Behörden eine klare und messbare Verpflichtung zur Umsetzung eingehen.
5. Verfolgung einer zweigleisigen Strategie zur Umsetzung von eigenständigen, umfassenden und inklusiven Maßnahmen der Übergangsjustiz.
6. Priorisierung von Reparationen für alle Opfer schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen in Syrien, unabhängig welche Konfliktpartei diese begangen hat.
Das YSL, das im März 2021 vom Irakischen Repräsentantenrat verabschiedet wurde, gilt als gutes Praxisbeispiel, da es Frauen aus Minderheiten, die durch ISIL geschädigt wurden, einen Anspruch auf umfassende Reparationen eröffnete. Allerdings werden von den vorgesehenen Leistungen zur Wiedergutmachung des erlittenen Schadens, wie Rehabilitation, Land, Wohnraum, Beschäftigung, Bildung usw., bisher regelmäßig nur Entschädigungszahlungen ausgezahlt.
Darüber hinaus sind die Antrags-, Überprüfungs- und Berufungsverfahren im Rahmen des YSL übermäßig restriktiv und stellen eine unzumutbare Belastung für die Überlebenden dar. Zwar waren Minderheiten tatsächlich besonders gezielt von ISIL betroffen, sie machen jedoch nur einen Teil der ISIL-Verbrechen aus. Eine große Zahl von Überlebenden von ISIL sowie von anderen Konfliktparteien Geschädigte bleibt ausgeschlossen, marginalisiert und vernachlässigt.
Syrien sollte daher einen inklusiven „Niemanden zurücklassen“-Ansatz verfolgen und vorrangig vorläufige Entschädigungen für die am stärksten gefährdeten Überlebenden bereitstellen. Andere Formen der Wiedergutmachung, wie Landzuweisungen, Steuerbefreiungen, Bildungsmöglichkeiten und bevorzugte Beschäftigung in neuen oder reformierten staatlichen Organen, könnten Wege zu Reparationen eröffnen, die unabhängig von begrenzten finanziellen Kapazitäten sind.
Ein allgemeines Reparationsgesetz, das für verschiedene Opferkategorien gilt, hat zudem den Vorteil, dass es Stigmatisierung im Zusammenhang mit konfliktbezogener sexueller Gewalt und sexueller Folter verringern kann, da Überlebende nicht herausgestellt oder innerhalb ihrer Familien und Gemeinschaften exponiert werden. Anerkennung und Offenheit für ganzheitliche und inklusive Lösungen sollten den Prozess leiten. Die internationale Gemeinschaft sollte diese Bemühungen unterstützen und so weit wie möglich zu Reparationen beitragen.
7. Erwägung von Machtteilungsregelungen zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen in Form von Föderalismus oder Autonomie.
Der Irak ist der einzige Staat mit einer erheblichen kurdischen Bevölkerung, die formale Autonomie und Selbstverwaltung genießt. Obwohl Spannungen und gelegentliche Konflikte zwischen der Regionalregierung Kurdistans (KRG) und der Zentralregierung in Bagdad häufig als Quelle der Instabilität angeführt werden, ist in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall. Die kurdische Autonomie war entscheidend, um die nationale Einheit nach dem Sturz des Baath-Regimes zu erhalten. Die autonome Region erwies sich zudem während des von ISIL verursachten Konflikts im Irak als sehr widerstandsfähig und stabil.
Die Defizite dieser Regelung resultieren größtenteils aus der Nichterfüllung verfassungsrechtlicher Bestimmungen – insbesondere in Bezug auf umstrittene Gebiete wie Kirkuk – sowie aus systemischer Korruption, demokratischen Defiziten und den Folgen langwieriger bewaffneter Konflikte.
In ähnlicher Weise hat Syrien in den letzten 15 Jahren faktisch als Föderation funktioniert, wobei Nordostsyrien zentrale Staatsfunktionen übernommen und effektive Kontrolle ausgeübt hat. Anstatt diesen Ausdruck lokaler Selbstverwaltung abzulehnen, sollten die syrischen Behörden alle Interessengruppen in einen konstruktiven Dialog einbeziehen, um einen funktionalen und nachhaltigen Governance-Rahmen zu schaffen, der Minderheitenbevölkerungen einen angemessenen Grad an Autonomie gewährt.
8. Vermeidung von mehrmaligen Dokumentationen von Menschenrechtsverletzungen, Beteiligung der Überlebenden und Schaffung von sicheren Räumen und Verfahren für Überlebende.
9. Priorisierung von Garantien zur Nichtwiederholung durch realistische und nachhaltige Reformen in einem inklusiven Beteiligungsprozess.
Die Verfassung des Irak von 2005, die nach umfassenden Beratungen zwischen den irakischen Machtblöcken – Schiitisch, Sunnitisch und Kurdisch – erarbeitet wurde, formulierte einen Weg, um Unrecht, das während der Herrschaft Saddam Husseins begangen wurde, zu korrigieren, insbesondere die demografische Umgestaltung durch die Arabisierungspolitik. Es wurde vereinbart, dass der Status umstrittener Gebiete wie Kirkuk durch ein im Verfassungstext selbst vorgesehenes Verfahren geregelt werden sollte.
Bedauerlicherweise sind 20 Jahre später die verfassungsmäßigen Bestimmungen noch immer nicht umgesetzt, was zu wachsenden Spannungen zwischen den Gemeinschaften im Land und zu allgemeiner Ernüchterung über Zweck und Rolle der Verfassung geführt hat. Der langwierige Konflikt zwischen der Zentralregierung und der KRG, der im Unabhängigkeitsreferendum von 2017 gipfelte, wirkt sich in erster Linie nachteilig auf die Bürger:innen aus, insbesondere auf jene in der Kurdischen Autonomen Region des Irak, die ihre Gehälter nicht erhalten, da Bagdad die Gehaltszahlungen als Druckmittel gegen die KRG einsetzt. All dies trägt zur Erosion des Vertrauens in den Staat und zur allgemeinen Apathie bei.
Darüber hinaus können trotz der Verabschiedung des Gesetzes zur Rückgabe von Land durch das irakische Parlament im Jahr 2025, das darauf abzielt, vom Baath-Regime enteignetes Land an die ursprünglichen Eigentümer zurückzugeben, kurdische und turkmenische Landwirte weiterhin nicht die faktische Kontrolle über ihr vor über einem halben Jahrhundert beschlagnahmtes Land zurückerlangen. Da die genannte Gesetzgebung keine spezifischen Umsetzungsmechanismen enthält, kann sie von den zuständigen Behörden schlicht ignoriert werden.
Für Syrien ist es wichtig, Fragen zu Wohnraum, Land und Eigentum (Housing, Land and Property – HLP) während der Transformationsphase anzugehen. Anstatt nach großen Lösungen für strukturelle, jahrzehntealte HLP-Probleme zu suchen und strikte Fristen zu setzen, könnte es erfolgversprechender sein, inklusive Konsultationsprozesse zu priorisieren, die darauf abzielen, Lösungen für konkrete Probleme zu finden und schnell umzusetzen. Solche „kleineren“ Erfolge würden das Vertrauen der beteiligten Parteien erhöhen und zu weiteren positiven Entwicklungen führen.
10. Schaffung von einheitlichen Streitkräften und Polizeikräften, die alle relevanten Gesellschaftsgruppen einbeziehen und ihre Autorität verantwortungsvoll sowie unter ziviler Aufsicht ausüben.
Dr. Bojan Gavrilovic
Programmleiter Recht und Gerechtigkeit
Autor:
1 Nordsyrien und der Irak sind vergleichsweise relativ reich an Wasserressourcen und bildeten historisch das südlichste Ausmaß der regenabhängigen Landwirtschaft in Südwestasien. Beide Länder haben mehrheitlich muslimische Bevölkerungen (mit sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften), sind ethnisch überwiegend arabisch geprägt und weisen große kurdische sowie weitere ethno-religiöse Minderheiten wie Turkmen:innen, Jesid:innen, Christ:innen usw. auf.
2 Für eine ausführliche Darstellung der Entbaathifizierung im Irak siehe Miranda Sissons und Abdulrazzaq al – Saiedi , “Bitter Legacy :
Lessons of De- Baathification in Iraq, International Center for Transitional Justice”, März 2013, unter:
https://www.ictj.org/sites/default/files/ICTJ-Report-Iraq-De-Baathification-2013-ENG.pdf
3 Siehe Eric Stover, Miranda Sissons , Phuong Pham und Patrick Vinck, “Justice on Hold : Accountability and Social
Reconstruction in Iraq,” Internationale Review des Roten Kreuzes, Volume 90 Nummer 869 (März 2008), p.22, unter: https://international-review.icrc.org/sites/default/files/irrc-869.pdf
4 Zu den einschlägigen Standards für die Überprüfung siehe OHCHR, “Rule-of-law tools for post-conflict States: Vetting: an operational framework”, 2006, unter: https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/Publications/RuleoflawVettingen.pdf
5 “IRCT´s Global Standards on Rehabilitation of Torture Victims” (GSR), verabschiedet im Oktober 2020 von der IRCT General Assembly,
bietet ein umfassendes, international anerkanntes Konzept zur Begleitung der Behandlung von Folterüberlebenden. Diese Standards bieten Mitgliedszentren bewährte Verfahren, um integrierte medizinische, psychologische, rechtliche und soziale Unterstützung bereitzustellen, wobei der Fokus auf einer Überlebenden-zentrierten Betreuung und der Stärkung der Selbstbestimmung liegt. GSR erhältlich unter:https://irct.org/wp-content/uploads/2022/05/IRCT_Global_Standards_on_Rehabilitation_of_torture_victims_2020.pdf
6 Eine erste Darstellung dieses Vorschlags im Kontext des Irak findet sich unter: Jiyan Foundation, Gutachten: “Outlining Practical Options for
Improving the Legal Framework in Iraq Addressing the Needs of (CAAFAG), Their Families, and Their Communities”, 2024, p.
11-12.
7 Siehe Michael A Newton, Irakisches Spezial Tribunal, Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2010, siehe unter: https://opil.ouplaw.com/display/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1703#
8 Siehe UN-Resolution des Sicherheitsrats 2379 (2017), unter: https://docs.un.org/en/S/RES/2379(2017)
9 Siehe UNITADs Aufgabenbeschreibung, 2018, unter: https://documents.un.org/doc/undoc/gen/n18/042/14/pdf/n1804214.pdf?_gl=1*eil4bp*_ga*MTU5ODQyODc3NS4xNzU2OTc4MjI2*_ga_TK9BQL5X7Z*czE3NTg4MDg0MDIkbzckZzEkdDE3NTg4MDg0MTMkajQ5JGwwJGgw
10 Der irakische Bundesgerichtshof hat seit 2012 nach Berichten rund 70.000 Verfahren unter Anwendung der umfassenden Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes von 2005 geführt. sieje C4JR, More than “Ink on Paper”: Taking Stock two Years After the Adoption of the Yazidi
[Female] Survivors Law, 2023, p.26, unter:
https://c4jr.org/wp-content/uploads/2023/03/More-than-Ink-on-Paper-two-years-after-YSL-adoption-report-FIN-ENG.pdf;
Hinweise zur Ausrichtung von Terrorismusverfahren an den Garantien eines fairen Prozesses finden sich unter “UNAMI, OHCHR, Human Rights in the Administration of Justice in Iraq: Trials under the anti-terrorism laws and implications for justice, accountability and social
cohesion in the aftermath of ISIL”, Januar 2020. unter:
https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/Countries/IQ/UNAMI_Report_HRAdministrationJustice_Iraq_28January2020.pdf ebenfalls unter Human Rights Watch,“Flawed Justice: Accountability for ISIS Crimes in Iraq.” Human Rights Watch, 2017.https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/iraq1217web.pdf
11 Siehe das C4JR-Positionspapier zur Verantwortlichkeitsklärung von ISIL-Taten im Irak, August 2022, unter: https://c4jr.org/wp-content/uploads/2022/08/Final-position-paper-ISIL-mechanism-ENG_FINAL_Hyperlinks-1.pdf
12 Siehe Bojan Gavrilovic, “Navigating the Accountability Maze in post UNITAD Iraq”, 2025, unter: https://www.justiceinfo.net/en/140373-navigating-accountability-maze-post-unitad-iraq.html
13 Die C4JR und ihre Mitglieder befürworteten diesen Ansatz als Reaktion auf die unerwartete Schließung von UNITAD im Irak. Siehe: Stellungnahme der irakischen Zivilgesellschaft und von Überlebenden-Netzwerken zur Anfrage des Irak auf Beendigung des UNITAD-Mandats im September 2024, unter: https://c4jr.org/wp-content/uploads/2024/04/C4JR-report_ENG.pdf
14 Der im Juni 2020 veröffentlichte Gesetzentwurf ist das Ergebnis intensiver Konsultationen mit der irakischen Zivilgesellschaft und Fachleuten. Er sieht Entschädigungen für alle Überlebenden von CRSV vor, unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit oder der Identität des Täters, sowie für Kinder, die aus CRSV hervorgegangen sind. unter: https://c4jr.org/wp-content/uploads/2020/10/C4JR-DRAFT-CRSV-REPARATION-LAW-final-version-english-with-logo.pdf
15 Die auf bewährten internationalen Praktiken zur Durchführung administrativer Entschädigungsprogramme beruhenden Empfehlungen wurden 2021 dem irakischen Ministerrat präsentiert, unter:
https://c4jr.org/wp-content/uploads/2021/06/C4JR-Rec-to-CoM-ENG.pdf
16 Die Jiyan Foundation hat im Rahmen von C4JR zu diesem Zweck bislang drei Jahresberichte veröffentlicht “More than “Ink on Paper”-Berichte (Der Ausdruck ‚Ink on Paper‘ bezieht sich auf YSL und wurde von einigen Überlebenden verwendet, um ihre Zweifel an der Entschlossenheit der Regierung zu äußern, die im Gesetz zugesagten Entschädigungen umzusetzen.), 11 Newsletter und 7 Podcast-Folgen, die Erfolge und Herausforderungen im Zusammenhang mit der Umsetzung von YSL verfolgen, unter: https://c4jr.org/
17 Um diese Herausforderungen anzugehen, haben die Jiyan Foundation und C4JR gemeinsam mit Überlebenden interne Richtlinien für den ethischen Umgang mit Überlebenden sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, eine Medien-Checkliste und ein Toolkit für ethische Interaktion entwickelt. Das Toolkit baut auf den C4JR-Richtlinien und der Checkliste auf, wurde unter sorgfältiger Einbindung von Überlebenden und Expert:innen entwickelt und setzt neue Standards für traumasensible, Überlebenden-zentrierte Praktiken. Es soll Überlebende stärken und gewährleisten, dass ihre Geschichten mit Würde, Respekt und Sensibilität erzählt werden, unter: https://c4jr.org/wp-content/uploads/2024/07/Toolkit-for-Ethical-Engagement-with-Survivors_English.pdf
18 Für einen Überblick über konkrete Maßnahmen zur Gewährleistung einer sinnvollen Beteiligung von Überlebenden an Transitional-Justice-Maßnahmen bei Menschenrechtsverletzungen im großen Umfang siehe Fiona McKay, “Guidelines for Victim Participation in Justice Processes”, Februar 2025, unter: https://www.impunitywatch.org/wp-content/uploads/2025/03/INOVAS-Guidelines-English-FINAL-1.pdf
19 Bereits in der Ba’ath-Partei-Zeit wurden verschiedene Milizen oder sogenannte ‚Spezialarmeen‘ (Volksarmee, Jerusalem-Armee, Spezielle Republikanische Garde u. a.) gegründet, um den Einfluss der regulären Streitkräfte zu begrenzen und das Regime zu schützen, siehe Joseph Sassoon, Saddam Hussein’s Ba’th Party : inside an authoritarian regime, Cambridge University Press, 2012, p. 145-152.
20 Siehe Mohammad Salami, “The Role of Militias in Iraq: Evaluating their Impact and Strategies for Mitigation”, 2024, unter: https://eismena.com/en/article/the-role-of-militias-in-iraq-evaluating-their-impact-and-strategies-for-mitigation-2024-02-21