Lernen aus dem Irak: Zehn Erkenntnisse aus unserer Praxis für Syrien

Die Lehren aus dem Irak zeigen: Gerechtigkeit und Frieden müssen Hand in Hand gehen. Alle Überlebenden sollen ihr Recht auf Reparationen realisieren können ohne ausgeschlossen oder stigmatisiert zu werden. Politische Machtteilung und inklusive Lösungen für Land, Eigentum und Minderheiten sind entscheidend. Eine wirksame Rechenschaftspflicht und eine zivile Kontrolle des Sicherheitssektors können Stabilität sichern und neue Gewalt verhindern.

Wer im Bereich der Übergangsjustiz (Transitional Justice, TJ) tätig ist, blickt dieser Tage hoffnungsvoll nach Syrien. Das einzigartige Zeitfenster, um sich einzubringen und die Realität für Millionen von Überlebenden, Angehörigen von Opfern und vielen anderen Betroffenen des verheerenden, fast 15-jährigen Konflikts mitzugestalten, ist noch geöffnet.

Wir möchten hierzu beitragen indem wir die von uns gezogenen Erkenntnisse aus unserer über zwei Jahrzehnte langen Arbeit im benachbarten Irak als Anregungen für die Ausgestaltung der Übergangsjustiz in Syrien bereitstellen. Die Jiyan Foundation leistet seit 2005 Rehabilitationsangebote für Folterüberlebende, Unterstützung marginalisierter Gemeinschaften und die Förderung von TJ-Prozessen. Wir richten uns an internationale und nationale Akteure, die TJ-Prozesse in Syrien gestalten, insbesondere an politische Entscheidungsträger, zivilgesellschaftliche Partner und Förderinstitution. Wir erkennen die starken Parallelen zwischen Irak und Syrien an, die den im Folgenden vorgestellten Empfehlungen Gewicht verleihen. Beide standen unter osmanischer Herrschaft und wurden anschließend durch das unter dem Sykes-Picot-Abkommen etablierte britische bzw. französische Mandat geprägt. Es bestehen Ähnlichkeiten in den ethnischen, religiösen, sprachlichen und geografischen Gegebenheiten1. Beide Länder haben jahrzehntelange baathistische Diktaturen, langwierige Konflikte, Bürgerkriege und ausländische Interventionen erlitten. Bei allem Verständnis dafür, dass jeder Kontext einzigartig ist und „Copy-Paste-Formeln“ vermieden werden müssen, bevorzugen wir einen Ansatz, der auf „Lessons Learned“ basiert, um Fortschritte in postdiktatorischen Kontexten voranzubringen. Das Ziel ist, praxisorientierte Empfehlungen dafür zu entwickeln, was berücksichtigt oder vermieden werden sollte, um ein inklusives, sinnvolles und realistisches Modell der Übergangsjustiz für Syrien zu schaffen.

1. Vermeidung von allgemeinen und weitreichenden Ausschluss- oder Überprüfungsprogrammen, die einen bedeutenden Teil der Bevölkerung entfremden könnten.

Die Baath-Partei hatte nahezu die vollständige Kontrolle über die politische Repräsentation der sunnitischen Araber im Irak; eine bedeutende sunnitisch-arabische Opposition existierte nicht. Die Entbaathifizierung nach dem Krieg schloss Mitglieder der Baath-Partei von politischen Ämtern oder Positionen im Militär aus – zu einer Zeit, in der ein beträchtlicher Teil der sunnitischen Bevölkerung in die Partei eingebunden war, obwohl viele ihr nur beitraten, weil dies für ihren gewählten Beruf verpflichtend war. Die Entbaathifizierung wurde daher unter sunnitischen Arabern als Ausschluss von politischer Teilhabe und als kollektive Bestrafung erlebt2. Das politische Vakuum und die Verwundbarkeit innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft ebneten islamistischen Gruppen, der Aufstandsbewegung und gewaltsamen inneren Konflikten den Weg. Das irakische Beispiel dient als Warnung davor, große Teile der Bevölkerung bei der Erneuerung der syrischen Institutionen pauschal auszuschließen. Während viele Iraker zu Beginn dachten, die Entbaathifizierung sei eine Politik, die Täter strafverfolgen, Entschädigungen sicherstellen, gestohlenes Eigentum zurückgeben, Gedenkstätten schaffen, Lehrpläne überarbeiten und die Rückkehr der Baath-Partei an die Macht verhindern sollte3, wurden diese Ziele aufgrund grundlegender Mängel nie erreicht. Jeder Überprüfungsprozess in Syrien sollte daher individualisiert, transparent und auf nachgewiesenem Verhalten beruhen – nicht auf Rang oder Zugehörigkeit4.

2. Fokussierung auf nachhaltige und koordinierte Rehabilitationmaßnahmen, die psychosoziale und medizinische Unterstützung für Überlebende von Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen beinhaltet.

Rehabilitationsdienste werden oft fälschlicherweise ausschließlich mit psychosozialen und medizinischen Leistungen gleichgesetzt. Das Verständnis der Jiyan Foundation von Rehabilitation wird durch die Globalen Standards zur Rehabilitation von Folteropfern des International Rehabilitation Council for Torture Victims (IRCT) geprägt und geleitet, um eine ganzheitliche, hochwertige und Überlebenden-orientierte Versorgung sicherzustellen, die die körperlichen, psychischen, rechtlichen und sozialen Bedürfnisse der Überlebenden berücksichtigt5.

Im Irak wurde die Infrastruktur für Rehabilitation in fragmentierter und lokalisierter Weise aufgebaut und bleibt weiterhin von unsicheren, kurzfristigen Fördermitteln einer Vielzahl ausländischer Geldgeber abhängig. Wir sind der Ansicht, dass es vorzuziehen wäre, eine Blaupause für ein einheitliches System für das gesamte Land zu schaffen – möglicherweise durch einen nationalen Rehabilitationsfonds. Dieser könnte erfassen, wo solche Zentren bereits existieren, Überweisungssysteme aufbauen, Überschneidungen vermeiden und eine bessere Integration in nationale und dauerhafte Strukturen ermöglichen.

Ein solches Modell sollte zudem einen zentralen Knotenpunkt (Hub) umfassen, der als primäres Koordinations- und Kapazitätsaufbauzentrum dient, ergänzt durch Satellitenzentren in der Nähe der Gemeinschaften der Überlebenden. Der Hub – geleitet von führenden Fachleuten – würde Schulungen für neue Fachkräfte (z. B. Ärzt:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und Bildungsexpert:innen) anbieten, Therapeut:innen supervidieren, ethische Verhaltensrichtlinien entwickeln und Überlebende in beratende Prozesse einbeziehen. Er würde drei Schlüsselkomponenten integrieren: Ausbildung (zum Aufbau einer nationalen Fachkräftebasis), Kapazitätsaufbau (zur Stärkung externer Expertise) und Dienstleistungserbringung (zur Bereitstellung spezialisierter, ganzheitlicher Rehabilitation).

Die angebotenen Leistungen sollten psychologische Betreuung, medizinische Unterstützung, rechtliche Hilfe, berufliche Qualifizierung, Familieninterventionen und soziale Unterstützung umfassen. Geldgeber sollten einen schrittweisen Übergang der Dienstleistungen in das staatliche System unterstützen – mit einem klaren Fahrplan für Integration und Nachhaltigkeit6.

3. Vermeidung eines Zielkonflikts zwischen Frieden und Gerechtigkeit indem starke Institutionen geschaffen werden, die alle Konfliktparteien zur Rechenschaft ziehen.

Nach dem Sturz des Baath-Regimes wurde das Irakische Sondertribunal eingerichtet, um Saddam Hussein und Mitglieder der Baath-Partei anzuklagen, denen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden. Allerdings wurde Saddam Hussein selbst nie für seine Verbrechen an den irakischen Kurd:innen zur Rechenschaft gezogen, da er nach dem endgültigen Schuldspruch im Al-Dujail-Fall und seiner anschließenden Hinrichtung im Dezember 2006 als Angeklagter im Al-Anfal-Verfahren gestrichen wurde7. Für seine Opfer bedeutete dies, dass ihnen Genugtuung und die offizielle Anerkennung ihres erlittenen Leids verwehrt blieben.

Im Jahr 2017, als Reaktion auf die Forderungen nach Gerechtigkeit für die Opfer des sogenannten Islamischen Staates im Irak und der Levante (ISIL), richtete der UN-Sicherheitsrat das UN-Ermittlungsteam zur Förderung der Rechenschaftspflicht für von Da’esh/ISIL begangene Verbrechen (UNITAD) ein8. Dieses UN-Organ erhielt das Mandat, Beweismaterial zu ISIL-Verbrechen zu sammeln, zu sichern und aufzubewahren, damit es in irakischen oder Drittstaatengerichten verwendet werden kann9. Das Mandat von UNITAD war jedoch auf ISIL-Verbrechen beschränkt und schloss Gräueltaten anderer Akteure aus. Ausschlaggebend ist zudem, dass die gesammelten Beweise nicht ihrem vorgesehenen Zweck dienten, da es dem Irak nicht gelang, internationale Verbrechen in nationales Recht zu überführen. Stattdessen wurden Tausende mutmaßlicher ISIL-Mitglieder auf Grundlage von Anti-Terror-Gesetzen in intransparenten Verfahren ohne faire Verfahrensgarantien verfolgt10.

Die irakische Erfahrung macht eine entscheidende Lehre deutlich: Mechanismen zur Rechenschaftslegung dürfen niemals nur auf eine Partei abzielen – unabhängig von Dauer und Ausmaß der begangenen Verbrechen. Wirksame Übergangsjustiz erfordert ein umfassendes Mandat, um alle Täter zu identifizieren/überführen und zu verfolgen, einschließlich jener, die derzeit an der Macht sind. Kein Akteur darf sich der Reichweite der Gerechtigkeit entziehen.

4. Unterstützung von Übergangsjustizprozessen (inkl. strafrechtlicher Verfahren) sollte daran geknüpft werden, dass die empfangenden Behörden eine klare und messbare Verpflichtung zur Umsetzung eingehen.

Obwohl UNITAD eingerichtet wurde, um Beweise zu internationalen Verbrechen zu sammeln und zu sichern, die ausschließlich von ISIL begangen wurden, unterstützte die irakische Zivilgesellschaft die Arbeit des Organs dennoch, da sie davon ausging, dass ein gewisses Maß an Gerechtigkeit besser sei als gar keine Gerechtigkeit11. Das Mandat von UNITAD wurde jedoch vorzeitig beendet – erneut auf Antrag des Irak. Das Hauptproblem bestand in der Weitergabe der Beweise, da der Irak seiner Verpflichtung, internationale Verbrechen in nationales Recht zu überführen und einen Mechanismus zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu schaffen, der die gesammelten Beweise nutzen könnte, nicht nachkam12. So wurden die integralen Beweise am UN-Hauptquartier archiviert, ohne dass sie für Rechenschaftszwecke genutzt werden konnten – weder im Irak noch anderswo.

Die Lehre für Syrien lautet, dass vor der Entsendung einer solchen Mission eine ausdrückliche Verpflichtung eingeholt werden muss, um sicherzustellen, dass die gesammelten Beweise im Empfangsland ihrem vorgesehenen Zweck zugeführt werden und weiterhin für Rechenschaftszwecke anderswo verfügbar bleiben. Zudem sollte internationale Unterstützung an das Erreichen klar definierter, greifbarer Meilensteine oder Benchmarks geknüpft werden13.

5. Verfolgung einer zweigleisigen Strategie zur Umsetzung von eigenständigen, umfassenden und inklusiven Maßnahmen der Übergangsjustiz.

In Bezug auf Reparationen sollte man die Bemühungen des Irak berücksichtigen, konfliktbezogene sexuelle Gewalt (Conflict-Related Sexual Violence, CRSV), die ISIL gezielt gegen irakische ethnisch-religiöse Minderheiten, insbesondere die Jesid:innen, verübte, direkt zu adressieren. Die Verabschiedung des Gesetzes für Überlebende der Jesidinnen (Yazidi Survivors Law, YSL) am 1. März 2021 markierte einen wichtigen Meilenstein in der Nachkriegsphase des Irak, da es lang ersehnte Unterstützung nicht nur für jesidische, schabakische, turkmenische und christliche Frauen und Mädchen, die CRSV durch ISIL erlitten hatten, versprach, sondern auch für Männer, die Massentötungen überlebten, sowie für entführte jesidische Kinder.

Das YSL sieht mehrere staatlich geförderte Reparationsmaßnahmen vor, darunter finanzielle Unterstützung, medizinische und psychologische Versorgung, Bereitstellung von Land und Wohnraum, Bildung sowie eine Quote im öffentlichen Sektor. Darüber hinaus erkennt es offiziell an, dass ISIL Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen die Minderheiten der Jesid:innen, Christ:innen, Turkmen:innen und Schabak begangen hat, und schreibt Maßnahmen wie Gedenkstätten, die Suche nach Vermissten, die Öffnung von Massengräbern, Identifizierung von Überresten und deren Rückführung an die Familien vor. Gleichzeitig sollen irakische Institutionen sicherstellen, dass die Täter von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden.

Zusätzlich erweiterten begleitende Verordnungen diese Verpflichtungen noch, etwa durch die Pflicht für staatliche Stellen, spezielle Lehrpläne zum ISIL-Konflikt zu entwickeln, die friedliches Zusammenleben und die Ablehnung von Gewalt fördern sollen. Schließlich legt das YSL ausdrücklich das Ziel fest, ein Wiederauftreten der gegen die genannten Minderheiten verübten Verbrechen zu verhindern.

Die Jiyan Foundation leitet ein Bündnis irakischer NGOs (Coalition for Just Reparations – C4JR), das zur Verabschiedung des YSL beitrug. Es erstellte einen Entwurf für ein Gesetz über Entschädigungen für Überlebende von CRSV während des ISIL-Konflikts im Irak14, führte Lobbyarbeit zur Verbesserung des ursprünglichen Entwurfs durch, gab Empfehlungen für die Durchführungsverordnungen des YSL15 und berichtete regelmäßig über die Umsetzung16. Die breite Ausrichtung des YSL wurde von der irakischen Zivilgesellschaft sehr begrüßt und international gelobt. Außerdem galt es als Meilenstein für den Irak und die Region.

Rückblickend zeigt sich jedoch, dass die Anordnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit im YSL – ein Gesetz, dessen Hauptziel die Einrichtung eines administrativen Reparationsprogramms ist – nicht der geeignetste Ansatz war. Darüber hinaus scheint ein solcher Ansatz einen gegenteiligen Effekt gehabt zu haben, indem er die Rechte der Überlebenden eher eingeschränkt als erweitert hat. Konkret führte er nicht zu strafrechtlichen Verurteilungen wegen internationaler Verbrechen, sondern führte hohe (gerichtliche) Beweisstandards ein, wodurch vielen Überlebenden der Zugang zu Entschädigungen verwehrt wurde.

Dies macht deutlich, dass es in anderen Nachkriegssituationen, einschließlich Syriens, sinnvoll sein könnte, einen zweigleisigen Ansatz zu priorisieren – eine klare Trennung von Reparationsmaßnahmen und strafrechtlicher Verantwortlichkeit.

6. Priorisierung von Reparationen für alle Opfer schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen in Syrien, unabhängig welche Konfliktpartei diese begangen hat.

Das YSL, das im März 2021 vom Irakischen Repräsentantenrat verabschiedet wurde, gilt als gutes Praxisbeispiel, da es Frauen aus Minderheiten, die durch ISIL geschädigt wurden, einen Anspruch auf umfassende Reparationen eröffnete. Allerdings werden von den vorgesehenen Leistungen zur Wiedergutmachung des erlittenen Schadens, wie Rehabilitation, Land, Wohnraum, Beschäftigung, Bildung usw., bisher regelmäßig nur Entschädigungszahlungen ausgezahlt.

Darüber hinaus sind die Antrags-, Überprüfungs- und Berufungsverfahren im Rahmen des YSL übermäßig restriktiv und stellen eine unzumutbare Belastung für die Überlebenden dar. Zwar waren Minderheiten tatsächlich besonders gezielt von ISIL betroffen, sie machen jedoch nur einen Teil der ISIL-Verbrechen aus. Eine große Zahl von Überlebenden von ISIL sowie von anderen Konfliktparteien Geschädigte bleibt ausgeschlossen, marginalisiert und vernachlässigt.

Syrien sollte daher einen inklusiven „Niemanden zurücklassen“-Ansatz verfolgen und vorrangig vorläufige Entschädigungen für die am stärksten gefährdeten Überlebenden bereitstellen. Andere Formen der Wiedergutmachung, wie Landzuweisungen, Steuerbefreiungen, Bildungsmöglichkeiten und bevorzugte Beschäftigung in neuen oder reformierten staatlichen Organen, könnten Wege zu Reparationen eröffnen, die unabhängig von begrenzten finanziellen Kapazitäten sind.

Ein allgemeines Reparationsgesetz, das für verschiedene Opferkategorien gilt, hat zudem den Vorteil, dass es Stigmatisierung im Zusammenhang mit konfliktbezogener sexueller Gewalt und sexueller Folter verringern kann, da Überlebende nicht herausgestellt oder innerhalb ihrer Familien und Gemeinschaften exponiert werden. Anerkennung und Offenheit für ganzheitliche und inklusive Lösungen sollten den Prozess leiten. Die internationale Gemeinschaft sollte diese Bemühungen unterstützen und so weit wie möglich zu Reparationen beitragen.

7. Erwägung von Machtteilungsregelungen zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen in Form von Föderalismus oder Autonomie.

Der Irak ist der einzige Staat mit einer erheblichen kurdischen Bevölkerung, die formale Autonomie und Selbstverwaltung genießt. Obwohl Spannungen und gelegentliche Konflikte zwischen der Regionalregierung Kurdistans (KRG) und der Zentralregierung in Bagdad häufig als Quelle der Instabilität angeführt werden, ist in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall. Die kurdische Autonomie war entscheidend, um die nationale Einheit nach dem Sturz des Baath-Regimes zu erhalten. Die autonome Region erwies sich zudem während des von ISIL verursachten Konflikts im Irak als sehr widerstandsfähig und stabil.

Die Defizite dieser Regelung resultieren größtenteils aus der Nichterfüllung verfassungsrechtlicher Bestimmungen – insbesondere in Bezug auf umstrittene Gebiete wie Kirkuk – sowie aus systemischer Korruption, demokratischen Defiziten und den Folgen langwieriger bewaffneter Konflikte.

In ähnlicher Weise hat Syrien in den letzten 15 Jahren faktisch als Föderation funktioniert, wobei Nordostsyrien zentrale Staatsfunktionen übernommen und effektive Kontrolle ausgeübt hat. Anstatt diesen Ausdruck lokaler Selbstverwaltung abzulehnen, sollten die syrischen Behörden alle Interessengruppen in einen konstruktiven Dialog einbeziehen, um einen funktionalen und nachhaltigen Governance-Rahmen zu schaffen, der Minderheitenbevölkerungen einen angemessenen Grad an Autonomie gewährt.

8. Vermeidung von mehrmaligen Dokumentationen von Menschenrechtsverletzungen, Beteiligung der Überlebenden und Schaffung von sicheren Räumen und Verfahren für Überlebende.

Als Reaktion auf die während des Krieges von ISIL begangenen Verbrechen wurden im Irak umfassende Dokumentationsmaßnahmen durchgeführt. Solche Bemühungen, zunächst von irakischen NGOs und später von staatlichen Institutionen sowie internationalen Organisationen wie UNITAD umgesetzt, führten zu Wiederholungen und belasteten die Überlebenden und ihre Gemeinschaften. Dies führte nicht nur dazu, dass Überlebende und ihre Familien immer wieder in stressige und potenziell retraumatisierende Situationen versetzt wurden, sondern schuf auch unrealistische Erwartungen, dass Gerechtigkeit zeitnah gewährt und Entschädigungen auf überlebensorientierte Weise bereitgestellt würden.

Dokumentation kann ein mächtiges Instrument für Gerechtigkeit sein und Möglichkeiten für die Verfolgung verschiedener Justizprozesse eröffnen – aber auch Einschränkungen auferlegen17. Eine übermäßige Dokumentation stellt jedoch eine erhebliche Herausforderung dar. Wenn Überlebende in unterschiedlichen Phasen der Übergangsjustizprozesse wiederholt aussagen müssen, steigt das Risiko einer Retraumatisierung und potenziell verzögert sich der Zugang zu Gerechtigkeit und Reparationen.

Um diese Probleme zu adressieren, ist ein koordinierter, traumasensibler Ansatz zur Dokumentation erforderlich – einer, der Schäden minimiert und die Komplexität der Erfahrungen der Überlebenden respektiert. Zudem sollte die Beteiligung der Überlebenden in allen Säulen und Phasen der Übergangsjustizprozesse18 durch ethische Einbindung sichergestellt werden, einschließlich regelmäßiger Konsultationen, gemeinsamer Initiativen (Co-Creation) und Unterstützung ihrer Selbstorganisation. Die Einbindung sollte vielfältig gestaltet sein, um die unterschiedlichen Opfer- und Überlebendenerfahrungen verschiedener Gruppen (Frauen, ethnisch-religiöse Minderheiten, Regimegegner etc.) angemessen widerzuspiegeln.

9. Priorisierung von Garantien zur Nichtwiederholung durch realistische und nachhaltige Reformen in einem inklusiven Beteiligungsprozess.

Die Verfassung des Irak von 2005, die nach umfassenden Beratungen zwischen den irakischen Machtblöcken – Schiitisch, Sunnitisch und Kurdisch – erarbeitet wurde, formulierte einen Weg, um Unrecht, das während der Herrschaft Saddam Husseins begangen wurde, zu korrigieren, insbesondere die demografische Umgestaltung durch die Arabisierungspolitik. Es wurde vereinbart, dass der Status umstrittener Gebiete wie Kirkuk durch ein im Verfassungstext selbst vorgesehenes Verfahren geregelt werden sollte.

Bedauerlicherweise sind 20 Jahre später die verfassungsmäßigen Bestimmungen noch immer nicht umgesetzt, was zu wachsenden Spannungen zwischen den Gemeinschaften im Land und zu allgemeiner Ernüchterung über Zweck und Rolle der Verfassung geführt hat. Der langwierige Konflikt zwischen der Zentralregierung und der KRG, der im Unabhängigkeitsreferendum von 2017 gipfelte, wirkt sich in erster Linie nachteilig auf die Bürger:innen aus, insbesondere auf jene in der Kurdischen Autonomen Region des Irak, die ihre Gehälter nicht erhalten, da Bagdad die Gehaltszahlungen als Druckmittel gegen die KRG einsetzt. All dies trägt zur Erosion des Vertrauens in den Staat und zur allgemeinen Apathie bei.

Darüber hinaus können trotz der Verabschiedung des Gesetzes zur Rückgabe von Land durch das irakische Parlament im Jahr 2025, das darauf abzielt, vom Baath-Regime enteignetes Land an die ursprünglichen Eigentümer zurückzugeben, kurdische und turkmenische Landwirte weiterhin nicht die faktische Kontrolle über ihr vor über einem halben Jahrhundert beschlagnahmtes Land zurückerlangen. Da die genannte Gesetzgebung keine spezifischen Umsetzungsmechanismen enthält, kann sie von den zuständigen Behörden schlicht ignoriert werden.

Für Syrien ist es wichtig, Fragen zu Wohnraum, Land und Eigentum (Housing, Land and Property – HLP) während der Transformationsphase anzugehen. Anstatt nach großen Lösungen für strukturelle, jahrzehntealte HLP-Probleme zu suchen und strikte Fristen zu setzen, könnte es erfolgversprechender sein, inklusive Konsultationsprozesse zu priorisieren, die darauf abzielen, Lösungen für konkrete Probleme zu finden und schnell umzusetzen. Solche „kleineren“ Erfolge würden das Vertrauen der beteiligten Parteien erhöhen und zu weiteren positiven Entwicklungen führen.

10. Schaffung von einheitlichen Streitkräften und Polizeikräften, die alle relevanten Gesellschaftsgruppen einbeziehen und ihre Autorität verantwortungsvoll sowie unter ziviler Aufsicht ausüben.

Die Militarisierung des öffentlichen Raums im Irak hat die staatliche Autorität tiefgreifend untergraben und die Aussichten auf Stabilität geschwächt19. Eine der wichtigsten Lehren aus der irakischen Erfahrung ist das Scheitern, die Streitkräfte unter einem einzigen nationalen Kommando zu vereinigen. Mehr als zwei Jahrzehnte nach 2003 bleibt der Irak durch die Präsenz von über 70 bewaffneten Gruppen fragmentiert, von denen viele autonom operieren und in einigen Fällen unter direktem Einfluss ausländischer Staaten stehen20. Diese Ausbreitung von Milizen hat zu konkurrierenden Machtzentren geführt, die Regierungsführung untergraben, Gesetzlosigkeit fördern und externe Einmischung in innere Angelegenheiten verfestigen.

Für Syrien ist es entscheidend, einen ähnlichen Verlauf zu vermeiden. Jede Sicherheitsarchitektur nach dem Konflikt muss eine einheitliche Kommandostruktur der Streitkräfte auf föderaler und/oder regionaler Ebene priorisieren. Mindestens sollten effektive Mechanismen für Koordination, Transparenz und Rechenschaftspflicht aller Gruppen, die berechtigt sind, Waffen zu tragen, etabliert werden. Dies ist wesentlich, um das staatliche Monopol auf den legitimen Einsatz von Gewalt wiederherzustellen, Fraktionalismus zu verhindern und die zivile Kontrolle über Sicherheitsinstitutionen zu gewährleisten.

Unterbleibt dies, drohen die Fortsetzung von Gewaltzyklen, die Stärkung von Warlords und die Schaffung eines Nährbodens für erneute Konflikte und externe Manipulation. Ein kohärenter und rechenschaftspflichtiger Sicherheitssektor ist unabdingbar für nachhaltigen Frieden und Rechtsstaatlichkeit.
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Dr. Bojan Gavrilovic

Programmleiter Recht und Gerechtigkeit

Autor:

Dr. Bojan Gavrilovic, Programmleiter Recht und Gerechtigkeit,
in Zusammenarbeit mit den Programmen Demokratie und Zivilgesellschaft sowie Traumahilfe und Gesundheit, mit den Kolleg:innen unseres Zentrums in Qamishli in Syrien, unserer PR-Abteilung und anderen Kolleg:innen von Jiyan.

1 Nordsyrien und der Irak sind vergleichsweise relativ reich an Wasserressourcen und bildeten historisch das südlichste Ausmaß der regenabhängigen Landwirtschaft in Südwestasien. Beide Länder haben mehrheitlich muslimische Bevölkerungen (mit sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften), sind ethnisch überwiegend arabisch geprägt und weisen große kurdische sowie weitere ethno-religiöse Minderheiten wie Turkmen:innen, Jesid:innen, Christ:innen usw. auf.

2 Für eine ausführliche Darstellung der Entbaathifizierung im Irak siehe Miranda Sissons und Abdulrazzaq al – Saiedi , “Bitter Legacy :
Lessons of De- Baathification in Iraq, International Center for Transitional Justice”, März 2013, unter:
https://www.ictj.org/sites/default/files/ICTJ-Report-Iraq-De-Baathification-2013-ENG.pdf

3 Siehe Eric Stover, Miranda Sissons , Phuong Pham und Patrick Vinck, “Justice on Hold : Accountability and Social
Reconstruction in Iraq,” Internationale Review des Roten Kreuzes, Volume 90 Nummer 869 (März 2008), p.22, unter: https://international-review.icrc.org/sites/default/files/irrc-869.pdf

4 Zu den einschlägigen Standards für die Überprüfung siehe OHCHR, “Rule-of-law tools for post-conflict States: Vetting: an operational framework”, 2006, unter: https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/Publications/RuleoflawVettingen.pdf

5 “IRCT´s Global Standards on Rehabilitation of Torture Victims” (GSR), verabschiedet im Oktober 2020 von der IRCT General Assembly,
bietet ein umfassendes, international anerkanntes Konzept zur Begleitung der Behandlung von Folterüberlebenden. Diese Standards bieten Mitgliedszentren bewährte Verfahren, um integrierte medizinische, psychologische, rechtliche und soziale Unterstützung bereitzustellen, wobei der Fokus auf einer Überlebenden-zentrierten Betreuung und der Stärkung der Selbstbestimmung liegt. GSR erhältlich unter:https://irct.org/wp-content/uploads/2022/05/IRCT_Global_Standards_on_Rehabilitation_of_torture_victims_2020.pdf

6 Eine erste Darstellung dieses Vorschlags im Kontext des Irak findet sich unter: Jiyan Foundation, Gutachten: “Outlining Practical Options for
Improving the Legal Framework in Iraq Addressing the Needs of (CAAFAG), Their Families, and Their Communities”, 2024, p.
11-12.

7 Siehe Michael A Newton, Irakisches Spezial Tribunal, Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2010, siehe unter: https://opil.ouplaw.com/display/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1703#

8 Siehe UN-Resolution des Sicherheitsrats 2379 (2017), unter: https://docs.un.org/en/S/RES/2379(2017)

9 Siehe UNITADs Aufgabenbeschreibung, 2018, unter: https://documents.un.org/doc/undoc/gen/n18/042/14/pdf/n1804214.pdf?_gl=1*eil4bp*_ga*MTU5ODQyODc3NS4xNzU2OTc4MjI2*_ga_TK9BQL5X7Z*czE3NTg4MDg0MDIkbzckZzEkdDE3NTg4MDg0MTMkajQ5JGwwJGgw

10 Der irakische Bundesgerichtshof hat seit 2012 nach Berichten rund 70.000 Verfahren unter Anwendung der umfassenden Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes von 2005 geführt. sieje C4JR, More than “Ink on Paper”: Taking Stock two Years After the Adoption of the Yazidi
[Female] Survivors Law, 2023, p.26, unter:
https://c4jr.org/wp-content/uploads/2023/03/More-than-Ink-on-Paper-two-years-after-YSL-adoption-report-FIN-ENG.pdf;
Hinweise zur Ausrichtung von Terrorismusverfahren an den Garantien eines fairen Prozesses finden sich unter “UNAMI, OHCHR, Human Rights in the Administration of Justice in Iraq: Trials under the anti-terrorism laws and implications for justice, accountability and social
cohesion in the aftermath of ISIL”, Januar 2020. unter:
https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/Countries/IQ/UNAMI_Report_HRAdministrationJustice_Iraq_28January2020.pdf ebenfalls unter Human Rights Watch,“Flawed Justice: Accountability for ISIS Crimes in Iraq.” Human Rights Watch, 2017.https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/iraq1217web.pdf

11 Siehe das C4JR-Positionspapier zur Verantwortlichkeitsklärung von ISIL-Taten im Irak, August 2022, unter: https://c4jr.org/wp-content/uploads/2022/08/Final-position-paper-ISIL-mechanism-ENG_FINAL_Hyperlinks-1.pdf

12 Siehe Bojan Gavrilovic, “Navigating the Accountability Maze in post UNITAD Iraq”, 2025, unter: https://www.justiceinfo.net/en/140373-navigating-accountability-maze-post-unitad-iraq.html

13 Die C4JR und ihre Mitglieder befürworteten diesen Ansatz als Reaktion auf die unerwartete Schließung von UNITAD im Irak. Siehe: Stellungnahme der irakischen Zivilgesellschaft und von Überlebenden-Netzwerken zur Anfrage des Irak auf Beendigung des UNITAD-Mandats im September 2024, unter: https://c4jr.org/wp-content/uploads/2024/04/C4JR-report_ENG.pdf

14 Der im Juni 2020 veröffentlichte Gesetzentwurf ist das Ergebnis intensiver Konsultationen mit der irakischen Zivilgesellschaft und Fachleuten. Er sieht Entschädigungen für alle Überlebenden von CRSV vor, unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit oder der Identität des Täters, sowie für Kinder, die aus CRSV hervorgegangen sind. unter: https://c4jr.org/wp-content/uploads/2020/10/C4JR-DRAFT-CRSV-REPARATION-LAW-final-version-english-with-logo.pdf

15 Die auf bewährten internationalen Praktiken zur Durchführung administrativer Entschädigungsprogramme beruhenden Empfehlungen wurden 2021 dem irakischen Ministerrat präsentiert, unter:
https://c4jr.org/wp-content/uploads/2021/06/C4JR-Rec-to-CoM-ENG.pdf

16 Die Jiyan Foundation hat im Rahmen von C4JR zu diesem Zweck bislang drei Jahresberichte veröffentlicht “More than “Ink on Paper”-Berichte (Der Ausdruck ‚Ink on Paper‘ bezieht sich auf YSL und wurde von einigen Überlebenden verwendet, um ihre Zweifel an der Entschlossenheit der Regierung zu äußern, die im Gesetz zugesagten Entschädigungen umzusetzen.), 11 Newsletter und 7 Podcast-Folgen, die Erfolge und Herausforderungen im Zusammenhang mit der Umsetzung von YSL verfolgen, unter: https://c4jr.org/

17 Um diese Herausforderungen anzugehen, haben die Jiyan Foundation und C4JR gemeinsam mit Überlebenden interne Richtlinien für den ethischen Umgang mit Überlebenden sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, eine Medien-Checkliste und ein Toolkit für ethische Interaktion entwickelt. Das Toolkit baut auf den C4JR-Richtlinien und der Checkliste auf, wurde unter sorgfältiger Einbindung von Überlebenden und Expert:innen entwickelt und setzt neue Standards für traumasensible, Überlebenden-zentrierte Praktiken. Es soll Überlebende stärken und gewährleisten, dass ihre Geschichten mit Würde, Respekt und Sensibilität erzählt werden, unter: https://c4jr.org/wp-content/uploads/2024/07/Toolkit-for-Ethical-Engagement-with-Survivors_English.pdf

18 Für einen Überblick über konkrete Maßnahmen zur Gewährleistung einer sinnvollen Beteiligung von Überlebenden an Transitional-Justice-Maßnahmen bei Menschenrechtsverletzungen im großen Umfang siehe Fiona McKay, “Guidelines for Victim Participation in Justice Processes”, Februar 2025, unter: https://www.impunitywatch.org/wp-content/uploads/2025/03/INOVAS-Guidelines-English-FINAL-1.pdf

19 Bereits in der Ba’ath-Partei-Zeit wurden verschiedene Milizen oder sogenannte ‚Spezialarmeen‘ (Volksarmee, Jerusalem-Armee, Spezielle Republikanische Garde u. a.) gegründet, um den Einfluss der regulären Streitkräfte zu begrenzen und das Regime zu schützen, siehe Joseph Sassoon, Saddam Hussein’s Ba’th Party : inside an authoritarian regime, Cambridge University Press, 2012, p. 145-152.

20 Siehe Mohammad Salami, “The Role of Militias in Iraq: Evaluating their Impact and Strategies for Mitigation”, 2024, unter: https://eismena.com/en/article/the-role-of-militias-in-iraq-evaluating-their-impact-and-strategies-for-mitigation-2024-02-21